- Kerstin von der Krone
Die Hebraica- & Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
Mit rund 350.000 Objekten ist die Frankfurter Hebraica- und Judaica-Sammlung die größte in Kontinentaleuropa. Die Wurzeln der Sammlung reichen weit ins 19. Jahrhundert zurück: Schenkungen und Spenden von Frankfurter Jüdinnen und Juden bildeten den Grundstock.
“[W]o immer in Deutschland irgendein Gelehrter oder Schriftsteller ein jüdisches oder hebräisches Buch braucht, das anderwärts gar nicht zu beschaffen ist, wendet er sich nach Frankfurt; hier muss es sein und hier ist es auch.”
Mit diesen Worten beschrieb 1918 Oscar Lehmann (1858–1928) die Hebraica- und Judaica-Sammlung der Frankfurter Stadtbibliothek. Heute werden diese wertvollen historischen Bestände an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg verwahrt. Sehr besonders ist auch die Geschichte der Sammlung. Es waren vorrangig Frankfurter Jüdinnen und Juden, durch deren Schenkungen und Spenden seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine einzigartige „Bücherei hebräische[r] und jüdische[r| Literatur“ entstand. Sie ist damit Beispiel für die Zedaka, die jüdische Wohltätigkeit, und war zugleich Ausdruck der lokalen Verbundenheit und des Strebens, jüdisches Wissen und Wissen um Judentum und jüdische Tradition der Frankfurter Stadtgesellschaft und der Öffentlichkeit im Allgemeinen nahezubringen.
Jüdisches Mäzenatentum
Einige wenige Hebraica, die vor Mitte des 19. Jahrhunderts in den Bestand der ehemaligen Stadtbibliothek gelangten, entstammen dem Nachlass des christlichen Hebraisten Hiob Ludolf (1624–1704) oder gehen auf säkularisierte Klosterbibliotheken zurück. Eine Soncino-Bibel von 1494 gehörte einst etwa Johannes Reuchlin (1455–1522). Sie gelangte über die Bibliothek des Barfüßerklosters in den Bestand.
Die erste umfangreiche jüdische Schenkung, die Privatbibliothek von Isaac Markus Jost, gelangte 1861 an die Stadtbibliothek. Jost (1793–1860) gehörte zu den Begründern der Wissenschaft des Judentums, war Historiker und Lehrer am Frankfurter Philanthropin, der jüdischen Freischule. Zu den mehr als 850 Bänden der Sammlung Jost zählten frühe Werke der Wissenschaft des Judentums sowie zahlreiche pädagogische Schriften und Lehrbücher. Nur wenige Jahre später kam die Sammlung des Frankfurter Rabbiners und Gelehrten Aron Moses Fuld (1790–1847) hinzu. Sie umfasste überwiegend rabbinische Werke. Der Ankauf der Privatbibliothek des Frankfurter Gemeinderabbiners Nehemias Brüll (1843–1891) bedeutete eine substanzielle Erweiterung der Sammlung. Mit Unterstützung der Jüdischen Gemeinde Frankfurts gelangten mehr als 9.500 Bände in den Bestand der Stadtbibliothek.
Zu sehen bis zum 27.02.2022: Die Ausstellung "17 Motive jüdischen Lebens" in der Frankfurter Universitätsbibliothek (© Thomas Risse, Adrian Ziemer)
1898 kam Aron Freimann (1871–1948) an die Frankfurter Stadtbibliothek. Sein Name ist untrennbar mit der Geschichte der Sammlung verbunden. Freimann zählte zu den einflussreichsten jüdischen Bibliothekaren und Bibliographen seiner Generation und ist zugleich einer der wichtigsten Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Der umfassende Ausbau der Sammlung ist vor allem seinem Engagement zu verdanken. Als „Bewahrer und Ordner“ der Frankfurter Schätze erforschte und erschloss er die Bestände über Jahrzehnte mit dem Ziel, einen umfassenden Katalog zu erstellen. Der erste Teil zu den Judaica-Beständen erschien 1932. Ein geplanter zweiter Teil zu den Hebraica-Beständen ist nicht mehr erschienen, das Manuskript gilt als verschollen.
Kostbares Manuskript:
Die Erinnerungen der Glückel von Hameln
Unter Freimann konnten weitere herausragende Sammlungen akquiriert werden. Dazu zählt die Sammlung Berliner mit ca. 5.000 Bänden. Abraham Berliner (1833–1915) war Professor am orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin und akademischer Lehrer Freimanns. Nach dem Tod des Frankfurter Bankiers und Sammlers Wilhelm Carl von Rothschild (1828–1901) schenkte dessen Witwe Mathilda von Rothschild (1832–1924) der Stadtbibliothek mehr als 3.700 wertvolle Handschriften und Hebraica, die Freimann eigenhändig auswählte. Der letzte große Ankauf war die Sammlung Abraham Merzbachers (1812–1885). Sie umfasste ebenfalls wertvolle Handschriften und Hebraica, darunter die Handschrift der Erinnerungen der Glikl bas Juda Leib (1647–1724), besser bekannt als Glückel von Hameln. Insgesamt umfasste diese Sammlung rund 6.000 Bände.
Aufbauend auf diesen und weiteren kleineren Schenkungen sowie durch die kontinuierliche Sammlung der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur entstand in Frankfurt die größte Sammlung ihrer Art in Deutschland. Die Hebraica- & Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main zählt weltweit zu den bedeutendsten ihrer Art.
Kriegsschäden
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 wurde Aron Freimann noch vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Dienst entlassen. In den 1930er Jahren erwog Salman Schocken (1877–1959) den Ankauf der Hebraica-Bestände zu Gunsten der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem. Das Vorhaben scheiterte, auch am Widerstand der Jüdischen Gemeinde Frankfurts, Schocken kaufte aber zehn Inkunabeln.
Mit aktiver Unterstützung der Bibliotheksleitung und der Stadt Frankfurt gab es Aneignungsversuche der nationalsozialistischen „Judenforschung“, die im Zusammenhang mit der Gründung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage und dessen Ansiedlung in Frankfurt stehen. Letztlich verblieben die Hebraica und Judaica aber in der Stadtbibliothek.
Große Teile der historischen Bestände überstanden Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Nachkriegswirren unbeschadet. Während die Judaica nahezu vollständig erhalten blieben, verbrannte jedoch ein Großteil der Hebraica während der Bombardierung Frankfurts. Erhalten sind einzelne Teilbestände, darunter mehr als 400 hebräische Handschriften und Handschriftenfragmente, über 70 hebräische Inkunabeln sowie die einzigartige Sammlung Jiddische Drucke.
Der Umgang mit der Sammlung in der Nachkriegszeit blieb zunächst ambivalent. Veräußerungspläne, um Neuankäufe für die neu gegründete Stadt- und Universitätsbibliothek zu finanzieren, wurden zwar nicht umgesetzt, jedoch verkaufte die Stadt 1950 im Rahmen eines Restitutionsverfahrens acht besondere wertvolle hebräische Handschriften. Mit Ausnahme einer kurzen Phase zwischen 1957 und 1964, in der Ernst Loewy (1920–2002) die Sammlung leitete, blieb sie über Jahrzehnte ohne eine fachkundige Betreuung. Dennoch nahm sie im Forschungskontext eine wichtige Rolle ein, seit 1949 als Ausgangspunkt des Sondersammelgebiets Judentum, seit 1964 ergänzt um das Sondersammelgebiet Landeskunde Israel. Den damit verbundenen nationalen Sammlungsauftrag führt seit 2016 in veränderter Form der Fachinformationsdienst Jüdische Studien weiter. Dabei stehen neben der Sammlung einschlägiger Literatur nun der Aufbau einer fachlichen Informationsinfrastruktur und die Unterstützung datenbasierter Forschungen im Mittelpunkt. Ausgangspunkt hierfür sind auch die umfangreichen digitalen Sammlungen.
Digitalisierung kostbarer Hebraica und Judaica in der Universitätsbibliothek Frankfurt (© Steffen Böttcher, Hessen schafft Wissen)
Vorangetrieben wurden diese durch innovative Digitalisierungsprojekte von Rachel Heuberger, die von 1991 bis 2019 die Geschicke der Sammlung lenkte. Neben der Sammlung Jiddische Drucke, die als erster Teilbestand Ende der 1990er Jahre digitalisiert wurde, stechen zwei Projekte hervor. Das Presseportal Compact Memory wurde in Kooperation mit der RHTW Aachen und der Germania Judaica aufgebaut. Es stellt aktuell 500 historische jüdische Zeitungen und Zeitschriften bereit. Mit der Freimann-Sammlung wurde in Kooperation mit dem Leo Baeck Institute New York | Berlin zudem die historische Judaica-Sammlung auf Basis des Freimann-Katalogs virtuell rekonstruiert.
Die Digitalisierungsprojekte haben den Zugang zu einzigartigen historischen Beständen erleichtert. Doch darüber hinaus haben sie außerdem der Hebraica- und Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main über hochspezialisierte Fachkreise hinaus zu einer größeren Sichtbarkeit verholfen und den Charakter der Sammlung verändert. Sie zeichnet sich nicht nur durch einen umfangreichen Bestand gedruckter und digitaler Werke aus, die interessierte Öffentlichkeit und Wissenschaft gleichermaßen nutzen, sondern ist zugleich Ausgangspunkt digitaler Forschungen in den Jüdischen Studien.
Kerstin von der Krone leitet die Hebraica- und Judaica-Abteilung der Universitätsbibliothek Frankfurt und den Fachinformationsdienst Jüdische Studien.
© Titelbild: Steffen Böttcher, Hessen schafft Wissen
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