David Oppenheim(er) – ein Mann und seine Bibliothek
Um 1688 verzeichnete der kaum 25 Jahre alte David Oppenheim alle Bücher, die er bislang für seine Sammlung erworben hatte. Im Vorwort zu seinem Katalog bekundete er den Wunsch, ein Exemplar jedes jüdischen Buchs zu besitzen. Seine Formulierung, „Bücher zu machen ohne Ende“, bezieht sich – selbstbewusst positiv gewendet! – auf eine Passage im biblischen Buch Kohelet (12:12). Dort heißt es: „Im übrigen, mein Sohn, lass dich warnen! Es nimmt kein Ende mit dem vielen Büchermachen, und viel Studieren ermüdet den Leib.“ Für Oppenheim galt ganz offensichtlich das Gegenteil.
Geboren wurde David Oppenheim (oder Oppenheimer) 1664 in Worms. Seine Eltern Abraham Oppenheim und Blümle, die Tochter des Frankfurter Gemeindevorstehers David Wohl, lebten im Haus zur Kanne, einem der stattlichsten Häuser in der Wormser Judengasse. Ihre Wurzeln hatte die Familie Oppenheim in Worms und Frankfurt. Zwischen den beiden traditionsreichen Gemeinden bestanden vielfältige wirtschaftliche, kulturelle und familiäre Bezüge, und die Mitglieder der Familie gehörten in beiden Städten der einflussreichen jüdischen Oberschicht an.
Während Davids Vater Abraham zur Kanne fast sein ganzes Leben in Worms verbrachte, nutzten seine zwei Brüder die Chancen, die die Epoche nach dem Dreißigjährigen Krieg finanzkräftigen und risikofreudigen jüdischen Kaufleuten bot: Sie wurden Hoffaktoren, Moses Oppenheim am kurpfälzischen Hof in Heidelberg und Samuel Oppenheimer, der bekannteste und erfolgreichste „Hofjude“ seiner Zeit, am Kaiserhof zu Wien.
Das Haus "Zur Kanne" in Worms, wo David Oppenheim aufwuchs (© privat)
Die freie Stadt Worms dagegen war nach dem langen Krieg wirtschaftlich und politisch geschwächt, viele ihrer Einwohner, Christen wie Juden, verarmt. 1666 starben bei einem schweren Ausbruch der Pest allein in der Judengasse über 130 Menschen. Doch war der Ruf des jüdischen Worms als Stätte rabbinischer Gelehrsamkeit, als Hort der Tradition und alter Legenden ungebrochen. Wie es scheint, machte dies auf den jungen David einen tiefen Eindruck, wenn auch über seine Kindheit nur wenig bekannt ist. Seine erste Ausbildung erhielt er in seiner Heimatstadt durch den berühmten Rabbiner Jair Chajjim Bacharach. Die beiden pflegten eine enge Brieffreundschaft, auch als David Oppenheim seine Studien in Metz bei R. Gerschon Ulif Aschkenasi, in Friedberg und in Landsberg an der Warthe fortsetzte.
Heiratsnetzwerke verbanden im 17. Jahrhundert die Familie Oppenheim mit jüdischen Oberschichtfamilien in vielen Regionen Deutschlands. Auch für David wurde eine sehr gute Partie arrangiert: 1682 heiratete er Gnendel, die Tochter von Leffmann Behrens, dem Hoffaktor des Kurfürsten von Hannover. Spätestens jetzt besaß er genug Mittel, seiner Leidenschaft nachzugehen, dem Sammeln von Büchern und Manuskripten.
Käufe, Geschenke und ein spektakulärer Fund
In dem schon erwähnten Katalog sind etwa 460 Werke verzeichnet, die David Oppenheim zwischen 1681 und 1688 zusammengetragen hat. Neben den Titeln findet man dort auch Informationen über Provenienz, Preis und Vorbesitzer:Viele Bücher hatte er käuflich erworben, zum Teil direkt von den Autoren, andere hatte er als (Hochzeits-)Geschenk erhalten. Neben einzelnen Büchern kaufte er auch ganze Sammlungen, die er z.B. bei den Witwen von rabbinischen Gelehrten fand. Von manchen Manuskripten ließ er Abschriften anfertigen.
Besonders fruchtbar war die Verbindung zu seiner Heimatstadt, wo David Oppenheim viele rare Bücher erwerben konnte. Durch die Vermittlung des Wormser Gemeindeschreibers Sanwil Sofer (dem Schwiegersohn von Juspa Schammes, dem Verfasser der berühmten Wormser Wundergeschichten) machte er dort seinen vielleicht spektakulärsten Fund: Auf einem Schulboden, d.h. auf dem Dachboden einer Synagoge oder eines Lehrhauses, waren wertvolle Manuskripte deponiert und mehr oder weniger dem Verfall überlassen worden, verschimmelt, von Insekten befallen, dem Regen ausgesetzt. Anscheinend handelte es sich um eine vergessene Genisa, einen Aufbewahrungsort für alte, kultisch unbrauchbare religiöse Schriften. Unter diesen befand sich ein einzigartiges Manuskript: der Pentateuch-Kommentar des Raschbam (Samuel ben Meir von Troyes), eines Enkels von Raschi, dem berühmtesten jüdischen Gelehrten des Mittelalters. Die Umstände des Funds beschrieb Oppenheim im Vorwort zu der ersten gedruckten Ausgabe dieses Kommentars von 1705.
Mit Worms blieb David Oppenheim zeitlebens verbunden und betrauerte die Niederbrennung der Stadt im Pfälzischen Erbfolgekrieg 1689, insbesondere die Zerstörung der Judengasse mit der altehrwürdigen Synagoge. Seine rabbinische Karriere führte ihn in den Osten des Heiligen Römischen Reichs: Ab 1690 amtierte er als Landesrabbiner von Mähren in Nikolsburg (heute: Mikulov), ab 1703 war er Oberrabbiner von Prag, später auch Landesrabbiner von Böhmen.
Stand in Oppenheims Bibliothek: Raschis berühmter Kommentar zum Pentateuch in einer Ausgabe von 1408 (©Bodleian Library MS. Oppenheim 35, Bodleian Libraries, University of Oxford)
Von Worms nach Hannover: Eine Bibliothek zieht um
Der angesehene Posten in Prag erforderte ein großes Opfer: Oppenheim konnte seine Bibliothek nicht mitnehmen, denn er musste befürchten, dass die jesuitische Zensur auch vor seinen Büchern nicht Halt machen würde. Daher brachte er 1703 die Bibliothek in Hannover im Haus seines Schwiegervaters Leffmann Behrens unter. Nur bei seinen ausgedehnten Aufenthalten dort konnte er sie nutzen. Er soll aber auf seinen Reisen stets einen Katalog ihrer Bestände mit sich geführt haben. In Hannover befand sich die Bibliothek unter der Aufsicht seines Sohns Josef und erlangte in gelehrten jüdischen wie christlichen Kreisen als Wissensspeicher wie auch als Sehenswürdigkeit Bekanntheit.
Hannover, Bergstraße 8: In diesem Haus wohnte mutmaßlich Leffmann Behrens (© Historisches Museum Hannover)
David Oppenheim starb 1736 in Prag, wo er auf dem alten jüdischen Friedhof begraben ist, sein Sohn nur drei Jahre später. Damit war die Bibliothek verwaist – es war niemand mehr da, der sich systematisch um sie kümmerte. Spätestens als Josefs Tochter Gnendel als Erbin in finanzielle Bedrängnisse geriet, begann ein neues Kapitel der Bibliotheksgeschichte: Die jahrzehntelangen Versuche, die Bibliothek zu verkaufen, lesen sich wie ein Wissenschaftskrimi. Trotz des Rufs, den die Sammlung weiterhin unter Gelehrten genoss, trotz eines Gutachtens von Moses Mendelssohn: In Deutschland ließen sich weder christliche noch jüdische Käufer finden. Schließlich wurde die Bibliothek für 2.080 Pfund (9.000 Taler) nach England verkauft: In 34 Kisten verpackt, erreichten ca. 4.500 Druckwerke und fast 1.000 Manuskripte im Sommer 1829 die Bodleian Library in Oxford.
Ob der Verkauf der Bibliothek an die Bodleian Library ein Happy End oder ein Fiasko war, wurde von Zeitgenossen und späteren Forschern heftig debattiert, denn lange fanden nur wenige Gelehrte den Weg nach Oxford, um ihre Reichtümer zu studieren. Heute ist eins gewiss: Der Verkauf bewahrte die Bibliothek vor dem Schicksal, in der NS-Zeit geplündert, verschleudert oder zerstört zu werden. Und so ist sie im 21. Jahrhundert das, was sie schon immer war: eine Schatztruhe, die noch viele Entdeckungen verspricht.
Dr. Ursula Reuter ist Geschäftsführerin der Germania Judaica - Kölner Bibliothek zur Geschichte des Deutschen Judentums.
Literatur zum Weiterlesen:
Spannende Einblicke in die Bibliothek von David Oppenheim sowie in die Bedeutung und den Nutzen frühneuzeitlicher Bibliotheken für ihre Besitzer auf dem neuesten Forschungsstand:
Joshua Teplitsky: Prince of the Press. How One Collector Built History’s Most Enduring and Remarkable Jewish Library, New Haven, London: Yale University Press 2019
Die Geschichte der Bibliothek, kurz und prägnant wiedergegeben:
Gregor Pelger: Wissenschaft des Judentums und englische Bibliotheken. Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahrhundert, Berlin: Metropol 2010, S. 106-121
Ein reich illustriertes Buch zum Lesen, Anschauen und Staunen:
Rebecca Abrams, César Merchán-Hamann (Hg.): Jewish Treasures from Oxford Libraries, Oxford: Bodleian Library 2020 (darin S. 183-205: Joshua Teplitsky, The Oppenheim Collection)
Zur Geschichte der Juden in Worms:
Fritz Reuter: Warmaisa. 1000 Jahre Juden in Worms, 3. Auflage, Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1987
© Titelbild: Gemeinfrei
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