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  • David Kraemer

Die Bibliothek des Jewish Theological Seminary New York




Die Bibliothek des Jewish Theological Seminary in New York, gegründet im Jahr 1886, gilt als die größte jüdische Bibliothek der westlichen Hemisphäre und eine der bedeutendsten Rara-Judaica-Sammlungen der Welt. Die Gründer des JTS waren überzeugt, dass kein bedeutendes Zentrum zur Ausbildung jüdischer Gelehrter und Führungspersönlichkeiten ohne eine gleichermaßen bedeutende Bibliothek auskommen könnte.



Die Vision einer Sammlung, die das kulturelle und dokumentarische Erbe des jüdischen Volks nicht nur für die Studenten und Dozenten des JTS, sondern auch für die gesamte jüdische Gemeinschaft repräsentieren sollte, wurde unter der herausragenden Leitung unseres ersten Bibliothekars Dr. Alexander Marx über einen Zeitraum von 50 Jahren Realität. In den 1930er Jahren gewann dieses stetig wachsende Vorhaben durch die Bedrohung der jüdischen Gemeinden und Bibliotheken Europas besonders an Dringlichkeit. Durch unermüdlichen Einsatz und nicht nachlassendes Engagement konnte die Bibliothek ihre einzigartigen Sammlungen an Judaica aufbauen – von Handschriften, Kunstwerken und Drucken bis hin zu Archiven, Musik und anderen Medien. Dieser Aufgabe widmen wir uns weiterhin mit Herz und Seele: Die Sammlungen wachsen kontinuierlich, und durch neue Technologien und unsere vor kurzem eröffnete hochmodern ausgestattete Bibliothek können wir nun unsere Schätze weltweit zugänglich machen.



 

Der erste Bibliothekar des JTS, Alexander Marx (© Leo Baeck Institute New York | Berlin)




Die weltweit vollständigste Sammlung hebräischer Inkunabeln


Die Sondersammlungen der Bibliothek enthalten 32.000 seltene Buchdrucke, fast 11.000 hebräische Handschriften, 370 Schriftrollen, mehr als 400 Archivsammlungen u.v.m. Herausragende Teile der Sammlung sind z.B. die 43.000 Fragmente der Kairoer Genizah, die weltgrößte Sammlung von Ketubot (Eheverträgen) sowie eine unvergleichliche Sammlung von Pessach-Haggadot. Im JTS befindet sich auch die weltweit vollständigste Sammlung hebräischer Inkunabeln. Reichtum und Breite der Sondersammlungen machen die Bibliothek zum Ziel für Studenten und Wissenschaftler aus aller Welt. Sichere, klimatisierte Magazin- und Lagerräume sowie ein nach den neuesten Erkenntnissen eingerichtetes Konservierungslabor stellen sicher, dass diese Schätze für künftige Generationen erhalten bleiben.


Unsere umfangreichen Sammlungen heutiger Judaica sind unentbehrliche Quellen nicht nur für JTS-Studenten und Dozenten, sondern für alle Nutzer aus nah und fern, die die Bibliothek aus den unterschiedlichsten Gründen nutzen. Die Sammlungen enthalten ca. 350.000 Bände und 13.000 Mikrofilmrollen (zumeist hebräische Handschriften), mehr als 4.200 historische und moderne Zeitschriften, 3.000 Tonaufnahmen, 6.600 musikalische Notenhefte und umfangreiche digitale Quellen.


Seit den 1990er Jahren hat die rasante Entwicklung digitaler Technologien großen Einfluss auf Bibliotheken und Bibliotheksdienste weltweit. Benutzer aus aller Welt können mittlerweile auf digitalisierte Materialien zugreifen. Seminarlektüre wird heutzutage meistens auf elektronischem Wege abgerufen. All diese Veränderungen sind keine einmaligen Ereignisse, sondern Teil einer andauernder Entwicklung. Da zudem in vieler Hinsicht nicht absehbar ist, wie diese Entwicklung weitergeht, müssen wir angesichts der zukünftig zu erwartenden digitalen Veränderungen mit unseren Investitionen äußerst vorsichtig sein. Die Auswirkungen zukünftiger Technologien auf Bibliotheken kann man heute noch nicht abschätzen.


Allerdings haben sich Vorstellungen als falsch erwiesen, die man anfangs von den Auswirkungen der digitalen Revolution auf die Nutzung von Bibliotheken hatte: viele Benutzer*innen ziehen weiterhin gedruckte Bücher vor. Sowohl für die Forschung wie auch fürs Lernen haben diese gewisse Vorteile gegenüber den digitalen Medien – vor allem in den Geisteswissenschaften, wo längere Monographien unverzichtbar für das Studium auf höherem Niveau bleiben. Vor allem legt die Einmaligkeit der JTS-Sammlungen nahe, dass digitale Bilder sehr wohl den Zugriff auf seltene Dokumente bzw. Artefakte ergänzen, diese aber nie werden ersetzen können. Für Wissenschaftler wie auch für andere Leser ist der direkte Anblick einer jahrhundertealten Texthandschrift von unvergleichlichem Wert.



 

Arbeitsplatz in der Bibliothek (© JTS)




Die beste Bibliothek für Geistes- und Religionswissenschaften sowie für bibliophile Raritäten ist daher diejenige, die Bücher und verwandte Materialien verschiedener Art zusammenbringt und die parallele Nutzung digitaler und physischer Medien erlaubt. Manchmal zieht der Nutzer die gedruckte Transkription einer Handschrift vor, weil sie leichter zu lesen ist; manchmal ist ein Digitalbild besser, weil es die Neubewertung zweifelhafter Lesarten erlaubt; manchmal ist das konkrete Artefakt unverzichtbar, weil es die Kunst des Kopisten, den auktorialen Prozess oder den Reichtum der Gönnerin bzw. des Gönners bezeugt. Die besten Bibliotheken müssen all diese Formen unterstützen und die JTS-Bibliothek will die technologischen Fortschritte auch in Zukunft integrieren.



JTS: Ressource – Mittelpunkt der Community – Bildungsort – Bewahrer


Als Reaktion auf den Wandel in Technologie und Bibliothekspraxis und um die Rolle der Bibliothek am JTS und in der Öffentlichkeit aufzuwerten, wurde 2009 ein strategischer Plan entwickelt. Dieser Plan unterstreicht die vier Hauptfunktionen der Bibliothek: Sie soll Quelle, Community-Mittelpunkt, Bildungsstätte und Bewahrer sein und dabei „das literarische und kulturelle Erbe des jüdischen Volks sammeln, bewahren und zugänglich machen.“ Um diesen Funktionen gerecht zu werden, muss der Zugang zu den Bibliotheksressourcen ausgedehnt, die Rolle des Bibliothekspersonals neu definiert und die internen wie externen JTS-Programme für die Öffentlichkeit erweitert werden. Nicht zuletzt muss eine neue Bibliothek gebaut werden, um all diese Ziele zu erreichen.


Um diese Vision zu verwirklichen, hat das JTS 2016 die bekannte Firma „Tod Williams and Billie Tsien Architects“ beauftragt, eine moderne, in den aufgewerteten JTS-Campus voll integrierte Bibliothek zu entwerfen. Die neuen Einrichtungen, die den Auftrag der Bibliothek auf vielerlei Weise unterstützen, öffnen zurzeit nach und nach. Sie erlauben uns, neue Wege zu gehen, neue Bibliotheksdienste anzubieten und den Zugang zu unseren Rara-Sammlungen wesentlich zu erweitern und zu vertiefen. Hier ein paar Details:

  • Die neue, kompaktere Anordnung der Lesesäle ermöglicht es dem Bibliothekspersonal, unmittelbaren Kontakt zu den Benutzer*innen aufzunehmen und ihnen proaktiv den Zugang zur ganzen Breite unserer Sammlungen anzubieten. So können die Benutzer*innen auf die Werke bzw. Artefakte zugreifen, die für ihre Forschung besonders hilfreich sind und neue Perspektiven eröffnen.

  • Der Lesesaal für Rara befindet sich jetzt im Erdgeschoss, direkt am Eingangsbereich. Seine exponierte Lage in der Nähe der allgemeinen Sammlungen ermöglicht eine intensive Beratung durch unser speziell für den Präsenzbestand neu ausgebildetes Personal, sodass sowohl zeitgenössisches wie auch seltenes Material in Forschung und Studium eingebracht werden kann.

  • Neu konzipierte Ausstellungsräumlichkeiten befinden sich direkt am Bibliothekeingang neben dem zentralen Innenhof. Hier stellen wir unsere außergewöhnlichen Objekte so aus, sodass auch die breite Öffentlichkeit von unseren Sammlungen lernen und Inspiration aus ihnen ziehen kann.

  • Direkt neben dem Eingang zur Bibliothek gibt es einen Präsentationsraum, wo kleinere Gruppen unsere Rara in einer intimen, streng kontrollierten Umgebung erleben können.

Die Lage der Bibliothek direkt neben dem zentralen Innenhof des JTS und dem Außengelände lässt einen zentralen Dreh- und Angelpunkt des Campus entstehen, der zu lebendiger Interaktion und Lernerlebnissen führt und für alle Beteiligten eine stimulierende Umgebung erzeugt.


Die Bibliotheksleitung ist sich bewusst, dass ein Gebäude nur soviel wert ist wie das, was in seinen Mauern passiert. So haben wir im Frühjahr 2017 einen neuen Planungsprozess initiiert, um Zweck und Angebote der Bibliothek aufgrund unserer neuen räumlichen Möglichkeiten zu evaluieren. In letzter Zeit haben uns Schließung und Fernbetrieb wegen der Covid-19-Pandemie erneut gezeigt, was eine Bibliothek sein kann und muss. Während wir mit Begeisterung in unsere neue Einrichtung einziehen, wo Studenten, Forschende und Öffentlichkeit jüdische Geschichte ganz persönlich erleben können, bauen wir zur selben Zeit unsere sehr erfolgreichen Programme für Hörer in aller Welt weiter auf. Dazu gehört auch eine breite Palette an Online-Literatur- und Kulturinitiativen. Während viele weiterhin zur JTS-Bibliothek kommen werden, um unsere Schätze persönlich zu genießen, werden andere unter unserer Führung eine virtuelle Reise unternehmen, die sie in ferne und nicht so ferne Kapitel der jüdischen Geschichte eintauchen lässt und es möglich macht, mit uns gemeinsam noch nie gedachte Zukunftsperspektiven zu entwerfen.



David Kraemer ist Joseph-J.-und-Dora-Abbell-Bibliothekar und Professor für Talmud und Rabbinica am JTS.



© Titelbild: gemeinfrei (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jewish_Theological_Seminary_of_America_(51241367198).jpg)


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