- Toby Simpson
Die Wiener Holocaust Library: Zeuge der „Schlachtfelder des jüdischen Geistes“
Die Wiener Holocaust Library ist eine der weltweit größten Sammlungen von Beweisen der Verbrechen des NS-Regime und seiner Kollaborateure. Dokumente aus diesen Sammlungen wurden in den Nürnberger Prozessen sowie im Prozess gegen Adolf Eichmann benutzt. In letzter Zeit wurden einige Bestände über neuere Genozide auch dem Internationalen Strafgerichtshof zur Verfügung gestellt: Materialien, die seit den frühen 2000er Jahren im Rahmen des erweiterten Aufgabenspektrums der Bibliothek gesammelt wurden. Neben dem schönen öffentlichen Lesesaal in der Nähe des British Museums in London werden die wesentlich erweiterten und frei verfügbaren Onlineressourcen der Bibliothek von Wissenschaftler*innen, Studierenden und unabhängigen Forscher*innen auf der ganzen Welt genutzt.
Das Zitat in der Überschrift dieses Artikels stammt von Rabbiner Dr. Leo Baeck, der über die Bibliothek und ihren Gründer, Dr. Alfred Wiener (1885–1964), schrieb:
Wir alle, deren innigste Hoffnung ist, dass der besondere jüdische Geist, der sich über Jahrhunderte in Deutschland stetig entwickelt hat, überlebt und sich als kreativ erweist – wir alle fühlen uns Dr. Alfred Wiener zu tiefstem Dank verpflichtet. Der jüdische Geist hat viele Schlachtfelder erlebt; um seinen Charakter und seine Kraft zu verstehen, muss man wissen, wofür und wogegen [Wiener] gekämpft hat. Bücher sind Zeugen dieses Geistes und dieser Gefechte; ihnen muss Zuflucht und Schutz geboten werden.
Schon vor dem Beginn seiner Karriere im öffentlichen Leben Deutschlands war Alfred Wiener ein bibliophiler Sammler. Seine intellektuelle Entwicklung hatte ihn in engen Kontakt mit der jüdischen Reformbewegung gebracht, in der Leo Baeck eine wichtige Figur war.
Seine erste theologische Ausbildung erhielt er an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Die Hochschule gründete Abraham Geiger, ein Mann, dessen Name zu einem Synonym für die Reformbewegung geworden ist.
Die jüdische Reformbewegung hat eine vielschichtige und komplexe Geschichte, aber ein wesentlicher Antriebsgrund war der Wunsch nach einem undogmatischen, modernen, wissenschaftlichen Zugang zum Judentum, der sich sowohl auf jüdische wie auf nicht-jüdische Quellen stützte. So schreibt Wieners Biograf, Ben Barkow: „An der Hochschule lernte Wiener, jüdische Studien wissenschaftlich zu betreiben: eine Einstellung, der er lebenslang treu blieb.“
Niederländische Erstausgabe von Anne Franks Tagebuch, Amsterdam 1947 (© Wiener Library)
Viele, die sich wie Wiener dieser Aufgabe widmeten, wollten ganz besonders diejenigen Juden stärken, die eine aktive Rolle in den damals schnell wachsenden Industrieländern Europas spielten, aber gleichzeitig – wie viele andere zeitgenössische Minderheiten – zahlreiche Nachteile in Kauf nehmen mussten. Dazu gehörte das Risiko von sozialer Ausgrenzung und Not, woraus sich die Notwendigkeit einer Art von Sozialversicherung ergab.
Mit genau diesen Themen beschäftigte sich die internationale Organisation B’nai B’rith [hebr. Bundesbrüder], die von deutschsprachigen Juden nach dem institutionellen (aber nicht intellektuellen) Modell der Freimaurerei 1843 in New York City gegründet worden war. Die Logen der B’nai B’rith förderten gegenseitige brüderliche Unterstützung und soziale Fürsorge unter den jüdischen Gemeinden. Im frühen 20. Jahrhundert – als Wiener seine Berliner Studienzeit abschloss – gab es einige Tausende aktive Mitglieder von B’nai B’rith in Mitteleuropa.
Wiener hatte während seiner Studienzeit überlegt, ob er vielleicht Rabbiner werden sollte, aber nach der Promotion 1911 schlug er schließlich einen anderen Weg ein: Er arbeitete mit Paul Nathan zusammen, dem Mitbegründer des „Hilfsvereins“, einer Organisation, die die Lebensqualität der Juden außerhalb Deutschlands u. a. mit dem Aufbau von Schulen zu befördern suchte.
Kampf gegen den Antisemitismus
Wie für die meisten Männer seiner Generation wurde der Erste Weltkrieg für Wiener zum transformativen Erlebnis. Besonders wichtig für seine spätere Karriere war zu dieser Zeit sein aktiver Beitrag zum Kampf gegen den Antisemitismus in Deutschland. Zu diesem Zweck schloss er sich dem „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an, der führenden Organisation hinter der Forderung nach bürgerlicher Gleichberechtigung für Juden in Deutschland. In der krisenbefallenen Weimarer Republik erwies sich diese Aufgabe jedoch als äußerst schwierig, schließlich als unmöglich.
Trotzdem zeigten Alfred Wiener und seine Kollegen große Energie und großen Einfallsreichtum, ganz besonders bei der Konfrontation mit der wachsenden Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Zusammen mit Walter Gyssling arbeitete Wiener in Berlin in einer neugegründeten Abteilung des Centralvereins – dem sogenannten Büro Wilhelmstraße – deren Aufgabe es war, der in den 1920er Jahren kontinuierlich zunehmenden Propaganda der NS-Partei entgegenzutreten. Das Büro stellte Rednernotizen und andere Materialien her, die Hitler und seine Gefolgschaft kritisierten. Zur selben Zeit engagierte sich Wiener weiter in der jüdischen Gemeinschaft und der sozialen Wohlfahrt, unter anderem als Präsident der Jehuda-Halevi-Loge des B’nai B’rith in Berlin.
Nach der Machtübergabe an Hitler im Frühjahr 1933 befand sich Wiener persönlich in einer sehr exponierten Lage, und seine Verhaftung wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, vor allem im Kontext der zunehmenden Gewalt nach dem Reichstagsbrand. Um sich und seine Familie zu schützen, floh er nach Amsterdam. Die ganzen Materialien, die er in Berlin gesammelt hatte, mussten vorher zerstört werden, um die Sicherheit der Menschen zu gewähren, die mit ihm gegen die Nazis gearbeitet hatten.
Exil in Amsterdam
In Amsterdam nahm Wiener seine Anti-Nazi-Arbeit von seinem neuen Apartment in der Jan van Eijkstraat aus wieder auf. Wie seine Frau war er aktives Mitglied der deutsch-jüdischen Flüchtlingsgemeinde. Mangels Unterstützung der niederländischen Regierung mussten Familien wie die Wieners selbst Wege finden, um sich zu versorgen. Hilfe bekamen sie lediglich vom „Komitee für besondere jüdische Belange“, einer von den niederländischen jüdischen Gemeinden gegründeten und geführten Organisation. Zusammen mit David Cohen, einem Mitgründer des Komitees, entwickelte Wiener den Plan zu einem geheimen Büro, das Beweismaterial über NS-Verbrechen sammeln sollte.
Wolfgang Josephs kam in den 1930er Jahren als Flüchtling aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Großbritannien. Vater und Sohn korrespondierten über das Rote Kreuz. Es war die letzte Nachricht, die Wolfgang von seinem Vater erhielt, der bald darauf deportiert und in Auschwitz ermordet wurde. (© Wiener Library)
Keimzelle: The Jewish Central Information Office
Die Idee konkretisierte sich nach einer Konferenz von 44 jüdischen Gruppierungen aus Europa und den USA, die vom 29. Oktober bis –1. November 1933 in Woburn House, London stattfand. Cohens Vorschlag für ein von Wiener geführtes Pressebüro in Amsterdam wurde angenommen, und so wurdedas „Zentrale jüdische Informationszentrum“ (Jewish Central Information Office: JCIO) offiziell gegründet. Diese Organisation besteht ununterbrochen bis heute weiter, zuerst als Wiener Library, dann als Wiener Library: Institute of Contemporary History, jetzt als Wiener Holocaust Library.
Eines der großen Projekten in Wieners Amsterdamer Jahren war, Beweise für einen Prozess in Bern zu sammeln und einzureichen. Bei dem Prozess ging es um die von den Nazis verbreiteten angeblichen „Protokolle der Weisen von Zion“. Außerdem sammelte er mehr als 300 Augenzeugenberichte über die staatlich organisierte Gewalt und Zerstörung gegen Juden und deren Besitz im Rahmen der Novemberpogrome von 9.-10. November 1938. Nach diesem Ereignis wurde schnell klar, dass das JCIO nicht länger in Amsterdam bleiben konnte, nicht zuletzt, weil die zunehmend bedrohlicheren Entwicklungen in der europäischen Politik die niederländischen Behörden veranlasst hatten, immer kritischer auf die Arbeit von Anti-NS-Gruppen zu blicken.
Wiener konnte 1939 den Großteil der JCIO-Sammlungen nach London bringen; tragischerweise aber blieben einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück. Wieners Frau Margarethe, eine wichtige Unterstützerin der Arbeit des JCIO, blieb mit den drei Töchtern in Amsterdam. Auch Kurt Zielenziger und Bernhard Krieg, Mitarbeiter des JCIO, konnten vor dem Einmarsch der Nazis in die Niederlande im Frühjahr 1940 nicht rechtzeitig fliehen. Margarethe, Kurt und Bernhard wurden alle nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie den grauenvollen Misshandlungen im KZ erlagen.
Kinder, die den Holocaust überlebt haben, kommen in Großbritannien an. (© Wiener Library)
Die Töchter von Margarethe und Alfred Wiener jedoch überlebten, und nach dem Krieg konnten sie in den USA wieder mit ihrem Vater zusammenkommen. Alfred Wiener hatte während des Kriegs viel Zeit in New York verbracht, wo er leichter nützliche Literatur finden konnte als in England. Inzwischen wuchs das JCIO in London zu einer unentbehrlichen Ressource unter anderem für die politischen Nachrichtendienste der Alliierten heran, die es mit detaillierten Informationen über den NS-Staat und dessen Führungsfiguren unterstützen konnte.
Nach dem Krieg spielten eben diese Informationsquellen eine wichtige Rolle in den Nürnberger Prozessen sowie später im Prozess gegen Eichmann. Die Wiener Library blieb auch aktiv in der genauen Beobachtung des wiederauflebenden Faschismus und Antisemitismus. Darüber hinaus war Alfred Wiener sehr daran interessiert, tragende Elemente seiner Beziehung zu Deutschland wieder herzustellen. Er arbeitete z.B. mit der deutschen Botschaft in London zusammen, was etwa dazu führte, dass Thomas Mann und Theodor Heuss die Bibliothek besuchten. Wie in zeitgenössischen Briefen und Meldungen zu lesen ist, waren diese Aktivitäten nicht ganz unumstritten. Wiener war aber zutiefst überzeugt vom dauernden Wert deutscher – und insbesondere deutsch-jüdischer – Kultur.
Wieners Unterstützung für die Germania Judaica
Wieners Rolle beim Aufbau der Bestände der Germania Judaica ist vor dem Hintergrund seines Engagements für den Wiederaufbau der Beziehungen zwischen der deutsch-jüdischen Flüchtlingsgemeinde in Großbritannien und den Institutionen in Nachkriegsdeutschland zu verstehen. Diese Tätigkeit erinnert allerdings auch an seine frühe Beschäftigung mit Theologie und insbesondere mit der jüdischen Reformbewegung in Berlin. Das neu aufgeflammte Interesse spiegelt vielleicht ein häufiger beobachtetes Phänomen wider: Nicht selten entdecken ältere Menschen eine Leidenschaft für Dinge wieder, für die sie sich viel früher einmal interessiert hatten, sie aber zwischenzeitlich nicht mehr so intensiv betreiben konnten. Alfred Wiener trennte eine große – letztendlich unüberbrückbare – Kluft vom Deutschland seiner Jugend. Daher sind seine Anstrengungen umso beeindruckender, Sammlungen von mehreren Tausend Bänden nicht nur in der Wiener Library in London, sondern auch in der Spezialbibliothek der Germania Judaica in Köln aufzubauen – eine Arbeit von nachhaltiger Wirkung.
Toby Simpson ist Direktor der Wiener Holocaust Library.
Ben Barkow , Alfred Wiener and the Making of the Holocaust Library (Vallentine Mitchell, 1997)
The Fatherland and the Jews: Two pamphlets 1919 & 1926 by Alfred Wiener (Granta, 2020)
Howard Falksohn, Wiener Holocaust Library holdings on Wissenschaft des Judentums (West London Synagogue Review, erscheint 2023).
Titelfoto: © Wiener Library
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