Die Sammlung Langerman: Visuelles Archiv zur Geschichte der Judenfeindschaft

Seit dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem sammelt der 1942 in Antwerpen als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer geborene Arthur Langerman antisemitische Bilder. Er hatte durch die nationalsozialistische Judenverfolgung beinahe seine gesamte Familie verloren. Langerman selbst überlebte in einem Kinderheim der „Association des Juifs en Belgique“ – und suchte nach Antworten auf die Fragen, wie es dazu hatte kommen können und woher der Hass auf die Juden rührte. In antijüdischen Bildern sah er eine maßgebliche Ursache und gleichzeitig unmittelbare Beweisstücke des über Jahrhunderte gewachsenen Judenhasses.
Langerman begann, Antisemitika zu suchen und zu sammeln. Aus der anfänglich eher willkürlichen Suche entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte eine Passion und eine weltweite, systematische und professionalisierte Sammlertätigkeit.
Ein Sammler auf den Spuren des Alltagsantisemitismus –
und im Kampf gegen das Vergessen
Innerhalb seiner Familie und seines Freundeskreises stießen die gesammelten Artefakte, die Arthur Langerman all die Jahre in seiner Privatwohnung aufbewahrte, derweil meist auf Unverständnis und Ablehnung. Infolgedessen ging er seiner Passion lange Zeit in erster Linie für sich selbst nach, ohne das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit zu suchen.

Arthur Langerman mit einem Plakat aus der während der Dreyfus-Affäre in Frankreich entstandenen Serie „Musée des horreurs“, 2017 (© Damien Caumiant)
Als in den 2010er-Jahren antisemitische Straftaten und Äußerungen zunahmen, entschied sich Arthur Langerman jedoch zu einem Kurswechsel. Alarmiert und zutiefst beunruhigt beschloss er 2017, nach über einem halben Jahrhundert privaten Sammelns, seine Kollektion für Forschung, Ausstellungen und Bildungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Sein ausdrücklicher Wunsch war es dabei, dass sie genutzt wird, um die Geschichte und Wirkung antijüdischer Vorurteile zu erforschen, über sie aufzuklären und als Warnung für heutige und zukünftige Generationen zu dienen. Im März 2019 überführte er seine Sammlung in die treuhänderisch von der Technischen Universität Berlin verwaltete Arthur Langerman Foundation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, sein Engagement fortzuführen.
Heute betreut das Arthur Langerman Archiv für die Erforschung des visuellen Antisemitismus (ALAVA) am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin die weltgrößte Sammlung judenfeindlicher Bilder und macht sie für Forschungs-, Bildungs- und Ausstellungszwecke zugänglich.
Antisemitika aus sechs Jahrhunderten
Die Kollektion des belgischen Holocaust-Überlebenden und Privatsammlers enthält visuelle Repräsentationen beinahe aller judenfeindlichen Mythen und Stereotype. Sie umfasst aktuell 8.100 Einzelstücke, darunter über 3.500 Postkarten, über 1.000 handgezeichnete Skizzen, mehrere Hundert Plakate, Flugblätter und Flugschriften, etliche illustrierte Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie eine Vielzahl von Gemälden, Stichen, Zeichnungen, Skulpturen und Alltagsgegenständen. Die Materialien stammen überwiegend aus Europa, aber auch aus den USA und dem Mittleren Osten und lassen sich auf den Zeitraum vom 16. bis zum 21. Jahrhundert datieren.
Zeugnis der Alltäglichkeit
In den Artefakten wird das visuelle Repertoire des Antisemitismus in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, Bosheit und diffamierenden Absicht sichtbar. Die Motive rekurrieren auf den christlichen Antijudaismus, die kulturell und sozial begründete Judenfeindschaft, den modernen, biologistisch argumentierenden Rassenantisemitismus, der in den nationalsozialistischen Judenmord mündete, sowie den israelbezogenen Antisemitismus. Das Arthur Langerman Archiv stellt in seiner Gesamtheit ein entsetzliches und unleugbares Zeugnis der Alltäglichkeit, internationalen Verbreitung, Persistenz und Anpassungsfähigkeit des Judenhasses dar. Gleichzeitig bietet es für die Forschung und die historische Bildungs-, Präventions- und Erinnerungsarbeit einen Quellenfundus mit einzigartigem Potenzial.

Collage antisemitischer Postkarten aus der Sammlung Langerman (© Angelika Königseder)
Das Arthur Langerman Archiv für die Erforschung des visuellen Antisemitismus
Das derzeit im Aufbau begriffene Arthur Langerman Archiv für die Erforschung des visuellen Antisemitismus übernimmt die wissenschaftlichen, organisatorischen und administrativen Aufgaben der Arthur Langerman Foundation. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeiten liegt in der Konservierung, Erschließung, Klassifizierung und Inventarisierung der Sammlung Langerman. Nach Abschluss dieser Arbeiten wird sie in digitaler Form für Forschung und Bildungsarbeit im Lesesaal der Bibliothek des Zentrums für Antisemitismusforschung am neuen Standort in der Kaiserin-Augusta-Allee zugänglich gemacht. Gleichzeitig soll die Sammlung Langerman den Ausgangspunkt eines dauerhaften Archivbetriebs bilden: ALAVA wird weiterhin visuelle Antisemitika aus Vergangenheit und Gegenwart sammeln.
Darüber hinaus betreiben die Mitarbeiter*innen von ALAVA Grundlagenforschung zum visuellen Repertoire des Antisemitismus. Sie initiieren und unterstützen Projekte, die sich der Erforschung der Sammlung Langerman und der Geschichte des visuellen Antisemitismus widmen. Studierende und Graduierte mit Promotions- oder Habilitationsabsicht sind künftig aufgerufen, die ALAVA-Bestände im Rahmen ihrer Qualifikationsarbeiten zu nutzen.
Bildung, Aufklärung, Prävention
Die ALAVA-Bestände sollen im Rahmen von pädagogischen Projekten zu Bildungs-, Aufklärungs- und Präventionszwecken bereitgestellt werden. Ziel ist dabei, das Erkennen visueller Stereotype zu schulen sowie diese dekonstruieren zu lernen, also die Funktionsweise dieser Bilder zu erklären, um ihre Wirkungsmacht zu hinterfragen und zu brechen. Lehrende und Praktiker*innen aus der Bildungs- und Jugendarbeit sind künftig eingeladen, die ALAVA-Bestände zu erkunden und Bildmaterialien für Lehrveranstaltungen, Workshops, Fortbildungen und Aufklärungsprogramme zu verwenden.
Ferner können Materialien für Ausstellungszwecke entliehen werden. Interessierte Museen, Gedenkstätten, Bildungsträger und andere Institutionen können sich mit Ideen und Konzeptvorschlägen für Ausstellungsprojekte an ALAVA wenden. Das Archiv fungiert als Anlauf- und Verwaltungsstelle, darüber hinaus bietet es Unterstützung bei der Erarbeitung von Ausstellungskonzepten an und konzipiert eigene Ausstellungen.
Um Einblicke in seine diversen Bestände zu geben, Forschungspotenziale aufzuzeigen und das Interesse zukünftiger Nutzer*innen und der interessierten Öffentlichkeit zu wecken, präsentiert ALAVA alle sechs Monate zudem ein Objekt des Semesters. Anhand dieser Objekte werden spezifische Motive, Topoi, Materialien und Erscheinungsformen des visuellen Antisemitismus thematisiert, ihre historischen Hintergründe erläutert und ihre Bedeutung und Entwicklung in Geschichte und Gegenwart skizziert. Damit soll auf die Rolle judenfeindlicher Darstellungen für die Verbreitung, Verankerung und den Fortbestand antisemitischer Vorurteile und Verschwörungsfantasien aufmerksam gemacht und das Bewusstsein für visuelle Stereotype geschärft werden.
Carl-Eric Linsler ist Historiker und wissenschaftlicher Sammlungsleiter des Arthur Langerman Archivs für die Erforschung des visuellen Antisemitismus.
Titelbild: Der neue Standort des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin in der Kaiserin-Augusta-Allee 104-106 (© TU Berlin/PR/Felix Noak)
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