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Heide Warncke

Ets Haim – Livraria Montezinos: Kostbare Kinder aus Papier




Wer die Bibliothek Ets Haim – Livraria Montezinos in Amsterdam besucht, sieht sich zurückversetzt in das Amsterdam des 17. Jahrhunderts. Der Besucher vergisst, dass er sich im 21. Jahrhundert und mitten im Stadtzentrum befindet. Näher als hier kann man der Geschichte der ersten Juden, die vor der Inquisition von der Iberischen Halbinsel unter anderem nach Amsterdam flohen, kaum sein.



Ets Haim („Baum des Lebens“) ist die älteste aktive jüdische Bibliothek der Welt. Anfang des 17. Jahrhunderts kamen die ersten unter Zwang zum katholischen Glauben konvertierten Juden in die Niederlande. Hier bot sich ihnen die Möglichkeit, ein traditionelles jüdisches Leben zu führen. Schnell wurde deutlich, dass sie sich inzwischen weit vom jüdischen Glauben entfernt hatten, lebten die iberischen Juden doch schon seit mehreren Generationen als Katholiken. Um eine jüdische Identität zu entwickeln und die Glaubenstraditionen wiederzuentdecken, benötigten sie Unterricht.


Schon im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts gründeten die Neuzuwanderer daher als Teil der Portugiesischen Gemeinde eine Schule, zu der auch die Bibliothek Ets Haim gehörte. Schon damals erkannte man, dass der Lehrplan der Schule einzigartig war. Er richtete sich in erster Linie auf das Lernen der Torah und erst danach auf das Studium des Talmud. Darüber hinaus war er auch offen für nichtreligiöse Fächer.


Als der polnische Kabbalist Shabtai Horowitz im Jahre 1642 nach Amsterdam kam und die Gemeinde besuchte, rührten ihn der Lehrplan und die Qualität von Schule und Bibliothek zu Tränen. Er wünschte sich, dass in der ganzen jüdischen Welt auf diese Weise unterrichtet würde.


Die Schule entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem Seminar für die Rabbinerausbildung. Bis zum Zweiten Weltkrieg war sie aktiv. Die Bibliothek ist heute Teil des Joods Cultureel Kwartier und steht Wissenschaftlern aus der ganzen Welt offen, um hier die Geschichte der sephardischen Juden zu erforschen. Touristen können die Bibliothek im Rahmen einer Führung besuchen.



 

Links: David Montezinos und sein Assistent Jacob da Silva Rosa, um 1910; rechts: Forscher und Kuratorin




Ets Haim: Eine internationale Bibliothek

Sammlungskern ist der Bücherschatz der Schule der Portugiesischen Gemeinde. Er umfasst sowohl Handschriften als auch gedruckte Werke auf Hebräisch, Spanisch und Portugiesisch. Jedes Buch erzählt auf seine Weise die Geschichte der Anfangszeit der Gemeinde. Man erfährt, was die Neuankömmlinge in Amsterdam bewegte, was sie lernen wollten und worüber sie sprachen.


So befinden sich in der Sammlung viele Polemiken, die sich mit dem Verhältnis des jüdischen Glaubens zum katholischen auseinandersetzen. Aus der Anfangszeit stammen Gebetbücher und Lehrbücher auf Spanisch und Portugiesisch – denn deren Leser konnten noch kein Hebräisch. Da die Sprache der Literatur lange Zeit das Spanische blieb, finden sich zahlreiche Werke in dieser Sprache, die die iberische Tradition der Poesie und Kunst widerspiegeln.



Sepharden in Amsterdam: Iberische und jüdische Identität

Die Umgangssprache blieb noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts das Portugiesische. Auch das ist am Bestand abzulesen. Insgesamt entsteht das Bild einer Gemeinde, die bestrebt war, eine jüdische Identität zu bilden, ohne dabei ihre iberische Identität zu verlieren. Ihrer nichtjüdischen Umgebung trat die Gemeinde mit offenem Blick entgegen. Als sie 1642 königlichen Besuch empfing, formulierte Rabbiner Menasseh Ben Israel in einer Rede die berühmten Worte: „Wir sehen nicht länger Kastilien oder Portugal als unser Vaterland an, sondern Holland“. Das ist sicher wahr, jedoch ist die Sammlung der Bibliothek Zeugnis dafür, dass die Gemeinde noch immer eine starke Verbundenheit mit der iberischen Halbinsel fühlte – und das gilt auch noch heute.



 

Menasseh Ben Israel, Rabbiner der Portugiesischen Gemeinde in Amsterdam

Kupferstich von Salom Italia, 1642




Menasseh ben Israel war nicht nur Rabbiner der Gemeinde. Er spielte auch eine wesentliche Rolle in der Entwicklung und Verbreitung der hebräischen Typographie, deren Buchstaben unter dem Namen "Otiyot Amsterdam" (Amsterdamer Buchstaben) weltweit bekannt wurden. Menasseh war nämlich der erste Jude, der in Amsterdam Hebräisch druckte. Dies tat er mit den von ihm entwickelten neuen Typen.



Amsterdam: Zentrum hebräischer Buchdruckkunst

Das erste Buch aus seiner Presse erschien im Jahre 1627. Vor dieser Zeit war die Schule der Portugiesischen Gemeinde in Amsterdam darauf angewiesen, hebräische Bücher aus anderen Zentren hebräischer Druckkunst wie Venedig und Saloniki zu erwerben. Nach 1627 wurde Amsterdam weltweit das Zentrum hebräischer Buchdruckkunst. Viele Drucke von Menasseh ben Israel sind in Ets Haim zu finden.


Im Jahre 1889 wurde die Sammlung Ets Haim, die bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich die intellektuelle Entwicklung der Portugiesischen Gemeinde und der Schule repräsentierte, erweitert durch die Sammlung von David Montezinos. Montezinos war 50 Jahre lang Bibliothekar von Ets Haim. Seine Leidenschaft für das jüdische Buch hatte dazu geführt, dass er schon als junger Mensch Bücher sammelte. Seine Ehe blieb kinderlos, darum nannte er seine Bücher liebevoll „meine Kinder aus Papier“. Noch zu Lebzeiten schenkte Montezinos seine Privatsammlung der Portugiesischen Gemeinde. Seit dem Jahre 1889 trägt die Bibliothek nun den Namen Ets Haim – Livraria Montezinos.



 

David Montezinos, ca. 1910




Heute besteht die Sammlung aus 600 Handschriften und rund 25.000 gedruckten Werken. In Ets Haim befindet sich auch das älteste datierte hebräische Manuskript der Niederlande: eine Handschrift aus dem Jahre 1282 mit dem Gesetzeswerk Mischneh Torah von Moses Maimonides. Die katholische Kirche hinterließ im 16. Jahrhundert in einem der Bände Spuren der Zensur. Maimonides schrieb hier über den Messias und darüber, dass Jesus Christus nicht der Messias der Juden war. In dem entsprechenden Absatz sind eine Reihe von Worten geschwärzt.


Auch eine frühe spanische Übersetzung des Moriae encomium (Lob der Torheit) des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam befindet sich in Ets Haim. Der Grund für diese Übersetzung ist ein Rätsel, vor allem da der Titel auf dem Index der von den Inquisitoren verbotenen Bücher stand.



Die Amsterdamer Haggadah

Ein Highlight ganz anderer Art ist die berühmte Amsterdamer Haggadah aus dem Jahre 1695. Für sie wurde zum ersten Mal in der Geschichte der hebräischen Buchdruckkunst die Technik des Kupferstiches angewendet. Die Vorlagen, die der Kupferstecher Abraham Bar Jacob hierfür verwendete, waren Kupferplatten, die Matthäus Merian der Ältere – Vater der berühmten Naturforscherin Maria Sibylla Merian – unter anderem für seine Bilderbibel Icones biblicae hergestellt hatte. Bar Jacob versuchte, diese Kupferplatten dem jüdischen Kontext der Haggadah anzupassen. Dass dies nicht immer möglich war, stört den Leser nicht, da die Abbildungen von besonderer Schönheit sind. Übrigens enthält diese Haggadah auch eine Karte des Heiligen Landes.



 

Die sogenannte Amsterdamer Haggadah von 1695




Besucher von Ets Haim sind beeindruckt, wenn sie die Bibliothek betreten. Die Atmosphäre, der angenehm süßliche Geruch der alten Bücher und das Bewusstsein, dass hier Geschichte geschrieben wurde, machen Ets Haim – Livraria Montezinos zu einem Besuch, den man als Buchliebhaber*in nicht vergisst.



Heide Warncke ist Kuratorin der Bibliothek Ets Haim – Livraria Montezinos.




Titelbild: ©Ets Haim

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