Memory of the World: Das Ringelblum-Archiv
Emanuel Ringelblum starb im März 1944. Der genaue Tag ist unbekannt. Zusammen mit seiner Frau Jehudith und dem zwölfjährigen Sohn Uri wurde er von Deutschen in den Ruinen des Warschauer Ghettos ermordet. Der unermüdlichen Arbeit des Historikers Ringelblum und seiner unerschrockenen Mitstreiter verdanken wir ein einzigartiges Zeugnis über das Leben der Menschen im Warschauer Ghetto und über die Gräueltaten der Nationalsozialisten: das Archiv Oneg Schabbat.
Der Name – übersetzt „Schabbatfreude“ – war mit Bedacht gewählt. Ringelblum und sein handverlesener engster Stab trafen sich unter strenger Geheimhaltung jeweils am Samstagnachmittag. Nur wenige Tage nach der Abriegelung des Warschauer Ghettos gründeten sie am 22. November 1940 formell das Ghetto-Archiv. Unter Ringelblums Ägide sammelten seine Mitstreiter*innen – unter ihnen auch Marcel Reich-Ranicki – nun Material, dokumentierten, archivierten und kopierten – immer mit dem Ziel vor Augen, ein möglichst vollständiges Bild der Lebenswelt der polnischen Juden im Ghetto und der an ihnen verübten Verbrechen zu schaffen.
Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) war ein Mitstreiter Ringelblums (© Gemeinfrei)
Ein stiller, unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewusster Mann.
Marcel Reich-Ranicki über Ringelblum
„Die „Aufgabe des Archivs erschöpfte sich nicht darin, eine Chronik des Verbrechens zu erstellen; es war auch Bestandteil des Kampfes um eine bessere Zukunft“, konstatiert Samuel Kassow in seiner großen Monografie über „Ringelblums Vermächtnis“. Ringelblum glaubte zu Beginn der deutschen Okkupation noch fest an ein polnisches Judentum, das nach dem Krieg wiedererstarken würde. Für ihn war Oyneg Schabes – so die jiddische Aussprache – ein Akt des zivilen Widerstands. Als das nationalsozialistische Ziel der systematischen „Ausrottung“ des Judentums immer deutlicher wurde, sah Ringelblum mehr und mehr die Dokumentation der Nazi-Verbrechen als zentrale Aufgabe des Archivs. Er selbst notierte regelmäßig in seinem Tagebuch die Ereignisse des Tages und schuf so die „Ghetto-Chronik“.
Eine kollektive Anstrengung
Für seine Arbeit nutzte Oneg Schabbat alle nur erdenklichen Quellen und die unterschiedlichsten Erzählformate: Die Mitarbeiter*innen verfassten Berichte, Interviews, Reportagen, Essays und wissenschaftliche Abhandlungen, etwa Aufsätze über die wirtschaftliche Entwicklung. Auch Meinungsumfragen führte Oneg Schabbat durch: So befragte man im Frühjahr 1942 jüdische Intellektuelle zur Zukunft des polnischen Judentums nach dem Krieg. Ebenso ließen sie die Menschen selber schreiben und sprechen, interviewten sie und archivierten ihre Zeugnisse.
Emanuel Ringelblum (© Gemeinfrei)
Leben im Ghetto
Ein wichtiger Themenbereich war Struktur, Funktion und Organisation des Ghettos. Berichte über die Hauskomitees – sie spielten eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben des Ghettos – über den Schmuggel, die Suppenküchen und den allgegenwärtigen Hunger, und die demütigenden parowki (Desinfektionen) dokumentieren das tägliche Leben der Menschen, einschließlich aber auch jenseits der deutschen Schikanen. Den Horror der Arbeitslager belegen Erlebnisberichte zurückgekehrter Insassen. Auch das Schicksal der Kinder im Ghetto hielt Oneg Schabbat fest. In Schulaufsätzen kommen die Kinder selbst zu Wort: Sie schildern ihr Leben, ihre täglichen Erlebnisse und Eindrücke.
Im Warschauer Ghetto verhungerten unzählige Kinder (© Gemeinfrei)
Viele Texte basieren auf Interviews, für die Ringelblum ausführliche Fragebögen entwickelt hatte. Rachel Auerbach, eine der wenigen überlebenden Mitstreiter*innen des Ghetto-Archivs, führte Gespräche mit Menschen, die aus dem Vernichtungslager Treblinka hatten fliehen können und ins Ghetto zurückkehrten. Auf Basis dieser Gespräche schrieb Auerbach ihre Berichte.
In dem Moment, als sich der Zug in Bewegung setzte, herrschte in dem Waggon eine tiefe Verzweiflung. Der Gedanke an den nahen Tod beherrschte uns alle und rief Entsetzen hervor. Von allen Seiten hörte man das Totengebet „Kaddisch“.
Abram Jakub Krzepicki über seine Deportation nach Treblinka
Wissenschaftliche Abhandlungen und Lebensmittelkarten
Oneg Schabbat schuf nicht nur selbst Quellen, das Archiv sammelte auch Dokumente, Archivalien und Artefakte aller Art: Berichte jüdischer Organisationen, Erlasse der deutschen Besatzer und Bekanntmachungen des Judenrats, religiöse Texte und Untergrundpresse, Gemälde und Zeichnungen, aber auch Lebensmittelkarten, Armbinden mit dem Davidstern und sogar Bonbonpapier.
In den ersten Monaten des Jahres 1942 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass die Nationalsozialisten die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung planten. Eine wichtige Rolle spielten dabei Augenzeugenberichte von Geflüchteten aus Vernichtungslagern. Oneg Schabbat sah es nun als seine Aufgabe an, diese Informationen „nach draußen“, in die Weltöffentlichkeit zu bringen und so zur Rettung der polnischen Jüdinnen und Juden beizutragen.
Das Archiv in der Milchkanne
Als im Juli 1942 die große Deportationswelle nach Treblinka begann, wurden auf Anweisung Ringelblums in großer Eile Teile des Archivs in Metallkästen und Milchkannen gepackt und unter höchster Gefahr im Keller eines Schulgebäudes vergraben. Im Februar und April 1943 folgten weitere Teile.
Rund 35.000 Dokumente des Ringelblum-Archivs – und damit der größte Teil des vergrabenen Schatzes – sollten den Krieg und die Zerstörung des Warschauer Ghettos überleben. Was sich erhalten hat, befindet sich heute im Jüdischen Historischen Institut in Warschau. Das UNESCO-Programms Memory of the World hat die Archivbestände 1999 auf die Liste des Weltdokumentenerbes aufgenommen.
Jeder Mitarbeiter von Oneg Schabbat wusste, dass seine Mühen und Qualen, seine harte Arbeit und sein Leid und schließlich der Einsatz seines Lebens ... einer großen Idee dienen, und dass die Gesellschaft dies am Tag der Freiheit zu würdigen wissen und mit den höchsten Auszeichnungen belohnen würde, die einem freien Europa zu Gebote stehen.
Emanuel Ringelblum
Ringelblum hatte 1932 über Die Juden in Warschau von den Anfängen bis zum Jahr 1527 promoviert. Damals ahnte er nicht, dass er mit Oneg Schabbat auch dessen Untergang dokumentieren sollte.
Dr. Constanze Baumgart ist Journalistin und Redakteurin dieses Blogs.
„Das Geheim-Archiv im Warschauer Ghetto" - eine arte-Dokumentation
Samuel Kassow, Ringelblums Vermächtnis, Hamburg 2010
Oneg Schabbat. Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos. Ringelblum-Archiv. Redaktion Jürgen Hensel, Warschau 2000
Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, München 1999
Titelbild: © Gemeinfrei
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