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Wie beerdigt man heilige Texte? Mit Respekt!

  • Daniel D. Stuhlman
  • vor 6 Tagen
  • 5 Min. Lesezeit

Anmerkung der Herausgeberinnen: Im Judentum gibt es bestimmte Regeln dafür, wie man mit heiligen Texten umgeht, die nicht mehr benutzt werden können. Daniel Stuhlman hat im Jahr 2022 in seinem Blog Kol Safran darüber berichtet, wie unter seiner Anleitung in einer Gemeinde in Chicago eine große Anzahl von Gebetbüchern und anderen religiösen Schriften beerdigt wurde. Seinen Beitrag veröffentlichen wir hier mit seiner freundlichen Erlaubnis (zum besseren Verständnis unserer Leser*innen mit leichten redaktionellen Änderungen).



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Hebräische Texte, wie Torarollen, Gebetbücher und andere religiöse Schriften, die den Gottesnamen enthalten, gelten als heilig. Auch wenn sie nicht mehr verwendet werden können, etwa weil sie durch Beschädigung rituell unbrauchbar geworden sind, sind sie weiterhin mit Respekt zu behandeln. Sie dürfen weder verbrannt noch absichtlich zerstört werden. Man soll sie an einem geschützten Ort sammeln, um sie irgendwann zu beerdigen.



Viele Synagogen im Nahen Osten besaßen für diesen Zweck einen Lagerraum, auf Hebräisch Genisa genannt, was so viel wie „versteckt“ bedeutet. Die berühmteste Genisa war die aus Alt-Kairo, die Salomon Schechter um 1900 der Gelehrtenwelt bekannt machte. Jahrhundertelang hatten Mitglieder dieser Synagoge dort Dokumente und heilige Bücher deponiert. Schechter entdeckte dort zum Beispiel die hebräische Originalversion des Buches Ben Sira.


Der Talmud diskutiert in Schabbat 115a, welche heiligen Bücher selbst am Schabbat vor einem Feuer bewahrt werden sollen. Daraus leiten wir ab, welche Texte respektvoll bestattet werden müssen. Der Talmud besagt, dass kein Text der hebräischen Bibel zerstört werden darf – selbst, wenn er den Gottesnamen nicht enthält. Dieser Gedanke steht im Zusammenhang mit dem Verbot, Gottes Namen auszulöschen. Bücher und Dokumente mit Gottes Namen werden auch Schemot (wörtlich „Namen“) genannt. In seinem Werk Mischne Tora legt der große jüdische Gelehrte Rambam (Maimonides) fest, dass alle heiligen Bücher in die Genisa gebracht werden sollen, auch wenn sie Gottes Name nicht enthalten (siehe Hilchot Yesodei HaTorah [Gesetze zu den Prinzipien der Tora] 6:8).

 


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Solomon Schechter beim Studium der Fragmente aus der Kairoer Genisa, 1898 (© gemeinfrei)



Von Objekten, die mit Geschichten verbunden sind, trennt man sich nur schwer. Manche Bibliotheksobjekte und Siddurim (Gebetbücher für Alltag und Schabbat) tragen die Namen der Spender*innen auf dem Exlibris. Und auch in Ihrer Privatbibliothek gibt es vielleicht Objekte, die eine „Biografie“ haben, eine Geschichte erzählen, wie sie in Ihren Besitz gelangt sind. Sie erinnern Sie möglicherweise an ein bestimmtes Ereignis oder an die Person, die Ihnen das Objekt geschenkt hat. Ohne Geschichte oder Kontext ist der Gegenstand nur ein Ding. Museen geben Objekten einen Kontext, sodass eine Geschichte erzählt wird.

 


Das Genisa-Projekt der Synagoge Temple Sholom in Chicago


Die Synagoge Temple Sholom of Chicago, in der ich als Bibliothekar tätig bin, hat über drei Jahre an einem Genisa-Projekt gearbeitet. Das letzte Mal, dass Materialien begraben wurden, lag neun Jahre zurück, und keiner der derzeitigen Mitarbeiter*innen erinnerte sich daran, wie das damals ablief. Unser Projekt war eine dreijährige logistische Herausforderung. Es gab keinen Projektleiter und keine festen Fristen. Niemand hätte sich darum gekümmert, ob das Projekt heute oder in einem Jahr abgeschlossen wäre. Anfangs gab es nicht einmal einen Verantwortlichen. Nicht, dass die Erledigung der Aufgaben ganze drei Jahre gedauert hätte, aber es gab einige Herausforderungen bei der Definition der Aufgabe und des Zeitrahmens, und dann war das Gebäude aufgrund von COVID für fast zwei Jahre geschlossen.

 

Im August 2021 führten wir ein gebäudeweites Aufräumprojekt durch. Wir hatten Bücher, die frühere Rabbiner hinterlassen hatten, und viele andere Spenden, deren Herkunft unklar war. Meine Aufgabe war es, zu entscheiden, was mit den Büchern geschehen sollte. Einige Bücher sollten in den Bibliotheksbestand aufgenommen werden, andere konnten verkauft oder verschenkt werden, und einige mussten begraben werden. Als Bibliothekar werfe ich Bücher in gutem Zustand nur ungern weg, weil ich immer denke, dass jemand sie haben möchte. Am schwierigsten ist es, wenn die Bücher zwar in gutem Zustand sind, aber ihre Nutzungsdauer überschritten haben. Die nicht-heiligen Bücher, d. h. Bücher ohne den Namen Gottes, wurden recycelt, gespendet oder verschenkt.


Im Gebäude befanden sich über 2.000 alte Siddurim und Machsorim  (Gebetbücher für Festtage) in verschiedenen Ausgaben, die in Kisten auf Regalen in Lagerräumen lagerten. Die meisten waren in gutem oder ausgezeichnetem Zustand. Der einzige Grund, sie zu entsorgen, war, dass die Gemeinde inzwischen einen neuen Siddur verwendete. Einige der Siddurim waren zwei oder drei Versionen älter als die aktuellen. Alle waren sie unverkäuflich, da niemand sie haben wollte, nur einige wenige wurden verschenkt. Schätze aus einer anderen Zeit, wie sie in der Kairoer Genisa gefunden wurden, fand ich nicht.


 

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Die Fünf Bücher der Thora, übersetzt und erläutert von Rabbiner Samson Raphael Hirsch, 1. Teil: Bereschit, Basel, mit Hinweis auf die Entsorgung gemäß dem jüdischen Brauch (© Germania Judaica Köln)




Zu Ehren des 150-jährigen Bestehens der Gemeinde schlug ich vor, den Mitgliedern ein historisches Paket mit Siddurim anzubieten, vom Union Prayerbook von 1940 bis zur Gates of Prayer-Reihe aus den 1980er und 1990er Jahren. Wir hatten keine Interessenten. Ich konnte lediglich einige von Rabbi Joseph Hertz herausgegebene Chumaschim  (Buch-Ausgaben der Tora, der fünf Bücher Moses) an Einzelpersonen und eine Synagoge verschenken.

 

Viele Mitarbeiter*innen der Gemeinde halfen dabei, die Bücher zu sammeln und in Kisten zu verpacken. Einige Bücher wurden auch von Gemeindemitgliedern abgegeben, aber es handelte sich nicht um eine Aktivität der ganzen Gemeinde. Zu den Mitarbeiter*innen, die halfen, gehörten unter anderem der Geschäftsführer, der Gebäudeverwalter, das Wartungspersonal, Rabbiner, Pädagogen. Ich musste die für das Grab benötigte Kubikmeterzahl berechnen, um sie dem Friedhofspersonal mitzuteilen. Der Hausmeister musste alles zusammenstellen und einen Lkw für den Transport der Kisten bestellen.



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Öffentliche Genisa in Jerusalem gemeinfrei)



Begrabene Bücher


Die Gemeinde besitzt einen eigenen Friedhof, und die Beerdigung war für einen Zeitpunkt angesetzt, an dem der Gemeindevorstand dort zusammenkommen wollte. Die Rabbiner wurden auf dem Laufenden gehalten und leiteten die Zeremonie. Für diese gibt es keine traditionelle Liturgie oder Rituale.

 

Während viele Synagogen regelmäßig Papiere und Dokumente aussortieren, die beerdigt werden müssen, habe ich noch nie von einer Synagoge im Raum Chicago gehört, die eine so große Bestattung einschließlich so vieler Kisten mit alten Siddurim geplant hätte. 84 Kisten mit einem Volumen von etwa 2.6 Kubikmetern wurden begraben. Die Kosten für dieses Projekt gingen über die üblichen Gehälter hinaus. Die Friedhofsverwaltung musste ein Grab ausheben lassen und den Mitarbeiter*innen Überstunden zahlen, um das Grab zu öffnen und abzudecken. Ein LKW musste gemietet und das Personal für das Be- und Entladen der Kisten bezahlt werden.

 

Die Grabgrube hat gerade Seitenwände, sie nimmt den Platz von zwei Gräbern ein. Die Kisten mit Büchern wurden sorgfältig und respektvoll in das Grab gelegt. Der Friedhofsverwalter plante die Öffnung so, dass, falls wir in ein oder zwei Jahren weitere Bücher zu begraben haben, nur ein kleiner Teil geöffnet werden muss und nicht das ganze Grab.

 

Bevor Sie Ihre eigenen Genisa-Bücher beerdigen, untersuchen Sie sie gründlich. Sie werden wahrscheinlich keine Fragmente von Geschäftsverträgen aus dem 13. Jahrhundert finden, aber Sie könnten wertvolle historische Erkenntnisse gewinnen.



Daniel D. Stuhlman ist Bibliothekar an der Synagoge Temple Sholom of Chicago.




Titelbild: Zur Beerdigung gesammelte Bücher (© Daniel D. Stuhlman)

 
 
 

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